Schulterschmerzen sind die dritthäufigste muskuloskelettale Beschwerde und kommen mit einem Auftreten von etwa 7 und 27% in der Bevölkerung vor. Bei Sportler:innen in Überkopfsportarten ist das Auftreten mit 36 bis 66 % sogar noch höher.
Schon seit geraumer Zeit besteht eine starke Debatte bezüglich der Pathologien die das Schultergelenk betreffen, sowie der entsprechenden Terminologie.
1. Was wird diagnostiziert und warum wird es so diagnostiziert?
Die häufigste Diagnose bei Schulterschmerzen ist das sogenannte "Schulter-Impingement-Syndrom" (SIS).
„Impingement“ bedeutet übersetzt „Zusammenstoß“. Prof. Dr. Charles Neer, Chriurg und Schulterpezialist prägte in den 1980er Jahren diesen Begriff. Seine Theorie war, dass Probleme der Rotatorenmanschette das Ergebnis eines Kontaktes oder „Impingements“ der Sehnen der Rotatorenmanschette mit dem Akromion (Schulterdach), einem Band (lig. Coracoacromiale) oder der Unterfläche der Verbindung zwischen Schulterdach und Schlüsselbeins sind. 1983 schrieb er, dass er glaubt, dass 95% der Risse der Rotatorenmanschette durch Impingement verursacht werden.
Schnell etablierte sich der einfache Gedanke, dass der Schmerz, den die betroffenen Personen beim Anheben bzw. nach außen oben anheben haben, daher kommt, dass eine Art Verengung zwischen Schulterdach und Oberarmkopf dazu führt, dass Sehnen bzw. Muskulatur „eingeklemmt“ werden. Verschiedene Ursachen wurden herausgestellt. Wieder traf es unter anderem die berühmte schlechte Haltung, vor allem von Büroarbeiter:innen. Dadurch muss es ja so kommen, dass die Muskulatur der Körpervorderseite immer kürzer und der subacromiale Raum immer enger wird - und schon klemmt man sich was ein. Und was eingklemmt ist, entzündet sich. Klingt erstmal logisch, oder?
Ganz so einfach ist es dann leider doch nicht. Vor allem deshalb nicht, weil die anschließende chirurgische Behandlung - die subacromiale Dekompression nicht unbedingt überzeugend zu Verbesserungen führte.
2. Was ist es denn dann?
Die Forschung hat gezeigt, dass die klinischen Test zu ungenau und die Komplexität der Schulterpathologien zu groß sind, als dass man Beschwerdebilder der Schulter grundsätzlich als ein "Impingement" zusammenfassen kann.
Bereits 1995 hat man in einer MRT - Studie herausfinden wollen, wie zuverlässig alleinige MRT Befunde im Bezug auf Schmerzen sind. Man hat 95 Erwachsene ohne Schmerzen im MRT untersucht und herausgefunden, dass die Hälfte der Probanden Veränderungen an den Sehnen der Rotatorenmanschetten aufwiesen, 20% Teilrisse der Sehnen und 15% sogar komplette Sehnenabrisse. Diese Personen hatten weder Schmerzen noch sonstige Beschwerden.
Eine systematische Übersichtsarbeit, publiziert im Jahr 2020, untersuchte 15 Studien mit insgesamt 775 Teilnehmern den Zusammenhang zwischen der Größe des subacromialen Raums und und Schmerz und Behinderung bei Erwachsenen mit einem Subacromialen Schmerz. Man stellte fest, dass es keine konsistente Korrelation im Bezug auf Schmerzen und der Größe des Subacromialen Raums gab.
Eine weitere randomisierte Studie zeigte auf, dass die arthroskopisch durchgeführte subakromiale Dekompression bei den Nachuntersuchungen nach 6 Monaten und 1 Jahr als nicht vorteilhafter war als kein Eingriff.
Es gibt Belege dafür, dass ein Übungsprogramm bei dem so genannten subakromialen Impingement-Syndrom nach 1-, 2-, 4-, 5- und 10-Jahres-Follow-up genauso wirksam ist wie eine Operation und auch dass es bei partiellen Rotatorenmanschettenrissen genauso wirksam ist wie eine Operation.
In einem anderen 5 Jahres Follow up an Sportler:innen in Überkopf- Sportarten konnte herausgefunden werden, dass etwa 40% der Sportler:innen Teil- oder Komplettabrisse aufwiesen, ohne je Schmerzen gehabt zu haben.
Aufgrund dieser Ergebnisse kann man davon ausgehen, dass selbst wenn Sehnenveränderungen oder -verletzungen bei Bildgebenden Verfahren sichtbar werden, somit nicht unbedingt die Ursache vollständig geklärt ist und das Therapeutische Vorgehen eine OP sein muss.
Doch auch hier gilt Vorsicht vor Verallgemeinerungen - nur weil es Studien gibt, die auf etwas hinweisen, heisst das noch lange nicht, dass OP´s im Allgemeinen nicht empfehlenswert sind und jetzt völlig klar ist, dass Veränderungen in der Schulter nicht auch zu Problemen führen können.
Wichtig sind hier die genauen Untersuchungen, die ganzheitliche Betrachtung und die daraus resultierende Herangehensweise.
Aus diesem Grund haben sich Experten zusammen geschlossen, um Leitlinien für die Schulterbehandlung zu entwickeln und so eine bestmögliche Therapieempfehlungen auszusprechen.
3. Jetzt wirds knifflig....
Die größte Problematik ist, dass es überlappende Bezeichnungen der Pathologien als subacromiales Impingementsyndrom (SIS) oder subacromiales Schmerzsyndrom (subacromial pain syndrom SAPS) in Abgrenzung zum mechanischen Outlet Impingement (MOI) gibt.
Diese komplexen Begriffe beschreiben verschiedene Lokalisationen und verschiedene Beteiligungen von Strukturen die entsprechend zu verschiedenen Therapieempfehlungen führen. Wer sich an dieser Stelle für die Begrifflichkeiten interessiert, folgt die kurze Erklärung. Wer wissen will, was das jetzt damit konkret bedeutet, kann weiter zu Punkt 4 springen.
AWMF Definitionen:
1. Subacromiales Impingement:
Eine sogenannte Einklemmung einer Sehne der Rotatorenmanschette (M. Supraspinatus) Schleimbeutel, oder der langen Bicepssehne zwischen Schulterkopf und einem Bereich des Schulterdaches.
2. Subacromiales Schmerzsyndrom
Beschreibt Schmerzen an (meist) einer Schulter, ohne vorhergegangen Unfall, am stärksten in der Abspreizbewegung des Armes.
3. Mechanisches Outlet Syndrom
Beschreibt eine Veränderung der Knochenstruktur (Strukturell) des oberen Schulterdachbereiches durch zum Beispiel Osteophyten oder einen Acromionsporn
4. Mechanisches Non-Outlet Impingement (MNOI)
Beschreibt eine tiefer gelegene Einengung des Schulterdachbereiches durch einen anderen Grund, wie beispielsweise eine Sehnenverkalkung, ein fehlverheilter Bruch eines knöchernen Vorsprungs am Oberarm, oder eine stark vergrößerter Schleimbeutel.
5. sekundäres Impingement
funktionelle Störungen der Humeruskopfzentrierung aufgrund von kapsulären Bewegungseinschränkungen (z.B. glenohumerales Innenrotationsdefizit GIRD) oder muskuläre Dysbalancen (z.B. Skapuladyskinesie)
Aufgrund dieser komplexen Begrifflichkeiten, unterschiedlichen Lokalisationen und dementsprechend auch unterschiedlichen Möglichkeiten der Therapie lohnt es sich, wenn man die Diagnose Impingement erhält, beim behandelnden Arzt nachzufragen, was genau damit gemeint ist.
3. Im Zweifel - Das "Subacromiale Schmerzsyndrom"
Auch wenn man heute weiss, dass die Schmerzen nicht durch eine Enge im Bereich unterhalb des Schulterdaches (Arcomion) durch eine Einengung entstehen, sind die Schmerzen der Patient:innen real. So spricht man aber eben nicht mehr von einer Einklemmung, sondern von einem lokalisiertem Schmerzsyndrom, das vielen Ursachen zugeordnet werden kann.
Das Subacromiale Schmerzsyndrom ist ein Sammelbegriff für Schmerzzustände der Schultern, die nicht - traumatisch sind. Es werden jedoch auch erstmal solche Pathologien darunter verstanden, denen eine Ursache zugesprochen wird (Tendinopathien, Schleimbeutelentzündungen, Sehnenverkalkungen).
4. Was heisst das jetzt konkret?
Es gibt nach heutgiem Erkenntnisstand keine generalisierten Erkrankungen, die in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung eines mechanischen Outlet-Impingements stehen. Ebenso entwickeln sich aus dem Vorliegen eines mechanischen Outlet-Impingements keine systemischen Erkrankungen.
Es könnte sich bei einem mechanischem Outlet Inpingement eine Schleimbeutelentzündung entwickeln. Der Zusammenhang zwischen der Ruptur einer Sehne und einem Impingement wird in der Literatur eine starke Veränderung des Schulterdaches diskutiert.
Ein gewisses „Impingen“ oder „Einklemmen“ erscheint jedoch häufig sogar normal und ist oft überhaupt nicht bedenklich. Und wider aller -Meinungen- kann der Zusammenhang zwischen der schlechten Körperhaltung und dem klassischen Impingement, welches alle Sehnen der Schulter „aufrubbelt“ ausgeschlossen werden.
Wie an anderen Stellen im Körper auch, kann es in der Schulter durch verschiedene Bedingungen zu Schmerzen kommen.
Jede Form von Schmerz hat auch nicht ausschließlich mit biologischen Strukturen zu tun, sondern ist multifaktoriell bedingt. Faktoren wie generelle Gesundheit, Bewegung, tägliche Belastung und Erholung beeinflussen das Schmerzverhalten immens.
Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, dass sich Schmerzen häufig nicht konstant gleichbleibend sind, sondern sich inkonsistent in die eine oder andere Richtung verändern.
Grundsätzlich ist es also ratsam, wenn Schmerzen auftreten oder wiederholt auftreten, ohne dass eine konkrete Verletzung vorliegt, einen Spezialisten aufzusuchen und das weitere Vorgehen zu besprechen.
5. Wie wird behandelt?
Abzuwarten, bis der Schmerz von allein verschwindet bewährt sich in manchen Fällen vielleicht (s. akute Nackenschmerzen), sollte aber nicht immer die Lösung sein.
Demnach scheint es für uns logisch, zunächst einen konservativen Ansatz in der Therapie zu verfolgen, der sich nach der aktuellen Situation und den individuellen Anforderungen der Patient:innen ausrichtet. Da Trainingstherapie in diesem Zusammenhang sowohl einen primären als auch generell viele sekundäre Nutzen haben kann, könnte ein individualisiertes und progressives Rehabilitationsprotokoll unter Berücksichtigung der jeweiligen, aktuellen Situation, Symptomen und Funktionen ein guter Weg zur Genesung der Schulterschmerzen sein.
Schulterschmerzen sind häufig gemeine Schmerzen. Gemeinsam mit dem Therapeuten könnte hier in erster Linie ein Belastungs- und Schmerzmanagement erfolgen, um die Schmerzen nachhaltig in den Griff zu bekommen.
Quellenangaben:
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